25. Mai 2021

Vom Bleiben Dürfen – eine Stadt öffnet (sich) wieder

Tisch (c) STADTBEKANNT

Gedanken einer durch die letzten Monate Spazierenden

Wer in den letzten Wochen durch Wien ging, hörte nicht nur aus allen Bäumen Vögel in allen Tonlagen – eine heilsame Ablenkung von all den monotonen Ansagen, was zu tun und was nicht zu tun sei.
Wurde da nicht auch gehämmert, wo vorher Totenstille eingekehrt war? Wurden da nicht Tische und Sessel aus einem hundertjährigen (oder doch nur zweihunderttägigen?) Schlaf geholt und vom Schmutz des nicht benutzt Werdens gereinigt? Wurden da etwa Markisen ausgerollt? Da und dort saß gar schon jemand an einem Tisch mit einem Getränk! Durfte man das denn schon? War das vielleicht doch nur das Personal? Fragen wie diese versetzten die Vorüberschlendernde und neidisch, neugierig und leicht neurotisch Hinstarrende in eine Zeit, in der sie zum Glück nie gelebt hatte. Fragen nach dem bleiben Dürfen, die ihr zwar nicht ganz unbekannt gewesen waren, die aber in den letzten Monaten, oder waren es doch Jahre? – zu ungebetenen Dauergästen im eigenen Denken geworden waren.

Heiligenkreuzer Hof (c) STADTBEKANNT
(c) STADTBEKANNT

Im Heiligenkreuzerhof erspähte sie eine Bank, auf der sie sitzen durfte oder so hoffte sie wenigstens, denn die Bank befand sich nicht im Gastgarten des dortigen Restaurants, in dem sich schon länger kein Gast befunden hatte, sondern unmittelbar daneben. Da saß sie dann unter der Sonne und den dahinjagenden Wolken und sah den Männern zu, wie sie Tische und Sessel rückten und eine Markise montierten. Wer darf wo zu wievielt und mit welchem Abstand sitzen? Fragen dieser Art flogen durch die etwas zu frische Frühlingsluft. Seit Monaten war der Stadt die Gastkultur mit dem dazugehörenden Wiener Grant aber auch dem immer wieder als stadttypisch bezeichneten Charme nicht nur nicht möglich sondern strikt untersagt gewesen. Was nicht “to go” ging, ging eben nicht. Take away but please don’t stay. Ganz war den Männern die Leichtigkeit aber nicht abhanden gekommen. Sie lachten trotz schwerer Markise und noch schwereren Fragen, die in den nächsten Tagen, wenn endlich wieder Gäste in ihren Garten kommen würden, mit am Speiseplan stehen würden.

Ein Sessel als Heimat

Einige Wochen davor. Es ist Karfreitag. Der Hahn hat noch nicht dreimal gekräht. In die Totenstille hinein fragt sie eine Frau: „Soll ich hier sitzen?“. Gehört ihr, die sie schon sitzt, etwa dieser menschenleere Platz, dass sie diese Frage beantworten könnte? Als sie auf den menschenleeren Platz trat, nicht ohne kurz beim Anblick der zwei Männer mit den Maschinengewehren zusammenzuzucken, sah sie sofort die weißen aufgestapelten Stühle vor dem ehemaligen Innungshaus der Schneider, heute ein Restaurant. Die zwei Männer mit den Maschinengewehren, die das Museum auf dem menschenleeren Platz vor Menschen bewachten, die es in diesen Tagen nur mit Gewalt betreten könnten, auch wenn sie es sehr wahrscheinlich friedlich besichtigen wollten, registrierten mit keinem Blick, dass sie sich an den Stapel weißer Sessel heranwagte, so geräuschlos wie möglich den obersten Sessel herunternahm und sich in die Sonne setzte. Sie hebt die Schultern und antwortet der Frau: „Sicher“. Sie weiß doch selber nicht, ob die Sessel nun, da das Lokal geschlossen ist, dem menschenleeren Platz gehören und somit den wenigen Menschen, die am Weg durch die Innenstadt diesen Platz überqueren und von der sonnigen Menschenleere gebannt hier sitzen wollen. Ob sie selbst hier auf diesem Sessel sitzen darf? Um das Dürfen dürfte es wohl in der Frage der Frau gegangen sein, die das Sollen wohl mit dem Dürfen verwechselt hat, die, sobald sie auch auf einem der weißen Sessel sitzt, über die geschlossenen Landesgrenzen hinweg telefoniert: Igen, Igen …

Seitenstettengasse Tempel (c) STADTBEKANNT
(c) STADTBEKANNT

Ort der Vertreibung und Vernichtung, Ort des Veweilens?

Schön ist dieser menschenleere Platz, wer würde das bestreiten, mit einem Wohnzimmer wurde er schon verglichen, an dem seit zwei Jahrzehnten erst an die 65.000 oft namenlos gebliebenen österreichischen Juden und Jüdinnen erinnert wird, die im zweiten Weltkrieg vernichtet wurden und damit auch an die vielen, denen das Bleiben in diesem Wohnzimmer und in der übrigen Wohnung Wien über Jahrhunderte schon immer wieder verwehr wurde – nicht indem etwa ihre Namen genannt würden. Indem vielmehr ihre Namenlosigkeit gezeigt wird, während die Orte, an denen man sie tötete, genannt werden, einer neben dem anderen auf Stein. Darf darauf jemand sitzen? Es steht nichts Gegenteiliges geschrieben. Möchte jemand darauf sitzen? Viele tun es normalerweise. Es bietet sich an. Kostenlos. Heute sitzt dort niemand. Die dunklen Namen leuchten im Sonnenlicht.
Namentlich genannt werden auf diesem Platz der Komponist, der nach Wien kam und blieb, bis ihn der frühe Tod holte, dem hier auf diesem Platz ein Kind geboren wurde, und Lessing aus Stein, dem die Nazis das Bleiberecht verweigerten und den sie einschmelzen ließen, der aber Jahrzehnte später in neuem Stein hier wieder aufgestellt wurde. Genannt wird auch der Hausbesitzer Jordan, auf dessem Haus sich ein mittelalterliches Relief befindet, dessen schreckliche Botschaft sich nur jenen erschließt, die mit ihrem Latein nicht gleich am Ende sind.

Fiaker – Fahrende Bleiben?

Sind da Pferdehufe in der Ferne? Ist Fiaker Fahren etwa erlaubt? Sitzt man da nicht viel enger zusammen als in einem Gasthaus? Und sind denn tatsächlich gerade Gäste in der Stadt, die Wien in einem aus der Zeit gefallenen Verkehrsmittel kennenlernen wollen?
Kann ein Fiaker zu einer temporären Bleibe werden auf einer halbstündigen Reise durch die Jahrhunderte über altes Pflaster und neue Unwegsamkeiten?
Als sie den Judenplatz schon hinter sich gelassen hat und den Platz am Hof überqueren will, fährt ein Fiaker an ihr vorbei. Der Fiakerfahrer deutet in die Richtung, aus der sie kommt und erzählt, die Gerte in der Hand, laut gestikulierend seinen Fahrgästen das Unerzählbare im Vorbeifahren.
Seine Gäste sind orthodoxe Juden in religiöser Tracht. Drei Erwachsene und vier Kinder oder gar fünf zählt sie mit offenem Mund. Eng aneinander gedrückt sitzen sie und wirken etwas erdrückt von der Fülle der Eindrücke. Gäste aus dem Ausland oder aus der eigenen Stadt, von der anderen Seite des Donaukanals, die an diesem Karfreitag schnell und unbemerkt durch die eigene Vertreibungsgeschichte reisen? Die Sonne ist mittlerweile ganz verschwunden.

Stephansplatz (c) STADTBEKANNT Nohl
(c) STADTBEKANNT Nohl

Platz der sozialen Sicherheit – eine offene Hand als Sitzmöbel für alle?

Ein paar Tage später. Wieder ziehen Wolken schnell von hier nach dort. Das Wetter zeigt sich nicht viel freundlicher als die Gegenwart. Da löst die Umbenennung des Ida Bohatta – Platzes in der Kundmanngasse im dritten Bezirk in „Platz der sozialen Sicherheit“ im ersten Augenblick bei der Spazierenden und nach kleinen Wärmeinseln in der Stadt Ausschau Haltenden nicht mehr als ein höhnisches Lachen aus. Und doch bleibt sie stehen. Gebannt von Glasfassaden, hinter denen nicht viele Menschen, aber dafür umso mehr bunte Bälle zu sehen sind. „Haus der Sozialen Sicherheit“ liest sie und bevor sie sich noch fragen kann, was damit wohl gemeint sein soll, sieht sie auch das Schild „SV“. Sozialversicherung. Alles hier will Hoffnung suggerieren, Hoffnung auf bessere, hellere Zeiten. Eine riesige rote Hand lädt zum Verweilen ein. Aber sie ist kalt und hart. Schnell steht sie wieder auf und nimmt den Platz genauer in Augenschein. Habibi & Hawara, nicht nur eine Restaurantkette, sondern auch ein ein privates und unabhängiges Ausbildungs- und Integrationsprogramm für Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund, denes es dabei hilft, ein eigenes Unternehmen zu gründen, bietet hier Österreichisch-Orientalisches zum Mitnehmen an. Ein paar neu gepflanzte Bäume strecken ihre dünnen Äste dem Himmel entgegen. In wievielen Jahren werden sie wohl erst kühlende Schatten auf diesen sich sicher sehr erhitzenden Platz werfen? Sie spaziert weiter, vorbei an einer weiteren riesigen, roten Hand, die auf den Platz der sozialen Sicherheit zeigt und steht an der Ecke zur Erdbergstraße vor 98 hölzernen Vogelhäuschen, die auf roten (!) in Reih und Glied dastehenden Metallstelen montiert sind. „Warten auf Vögel“ heißt die seit 2009 hier dauerhaft angebrachte Installation im Spannungsfeld im Spannungsfeld Natur und Kunst. Werden hier jemals Vögel verweilen, bleiben und brüten? Wohl eher nicht.

Vogelhäuschen (c) STADTBEKANNT
Vogelhäuschen (c) STADTBEKANNT

Von Schanigärten und anderen Freiluftheimaten

Wochen später. Die ersten Tage der lang ersehnten Öffnung sind verregnet. Viele Menschen lassen sich aber dadurch das lang Vermisste nicht verderben. Selbst draußen bleiben sie unverdrossen bei einem Bier mit Bekannten sitzen. Die vor Wochen montierten Markisen dienen nun zum Teil auch als Regenschutz. Die sonst meist übervollen Wiesen im Stadtpark sind hingegen lichter geworden. Im plötzlich wieder durchbrechenden Sonnenlicht glitzert der Teich märchenhaft und unter den Weiden lässt es sich ohne behördliche Bescheinigung und noch dazu kosumfrei verweilen. Gilt es nun, sich wieder in die lang ersehnten Vergnügungen zu stürzen, den Wiesen und Parkbänken also den Rücken zu kehren und in die Lokale und vor allem die Schanigärten zu eilen?
Die Freude der Lokalbesitzer*innen und ihren „Schanis“ ist groß. Sie tun jetzt wieder das, was ein sogenannter Herr Johann Jakob Taroni – von dem sich wahrscheinlich die Bezeichnung „Schani“ (für Jean, die französische Version von Johann) ableitet- 1754 tat, als er erstmalig ein Limonadenzelt am Graben aufstellte. So mancher unter ihnen bedankt sich bei den Gästen dafür, dass sie sich von der Bürokratie das Einkehrvergnügen nicht vermiesen lassen. Sie haben Monate lang gebangt, gekämpft, gehofft, viele haben inzwischen aufgegeben, andere haben ihr Lokal auf Hochglanz gebracht. All das gilt es jetzt zu genießen und vor allem auch zu honorieren. Wer kann, der kann, denkt sich die Spazierende im Vorbeigehen. Und auch sie wird es sich in den kommenden Tagen und Wochen wieder etwas kosten lassen, auch wenn sie zu den vielen gehört, die es sich nicht wirklich leisten können. Auch die Theater rufen, die vielen leeren Stühle, vor denen die Schauspieler*innen die letzten Monate probten. Wann waren denn je in Wien die Theater geschlossen? Selbst in politischen „Ausnahmezeiten“ wurde, ja musste sogar auf Kaisers Befehl gespielt werden.
Für viele in der Stadt hat sich jetzt aber nichts geändert, sie sitzen weiterhin auf der Straße und halten die Hand auf.

Balsam für die Seele – ein kleiner Brauner im Sitzen und eine große Geste an der Verkaufsteheke

Auch in der schon lange in Wien verankerten Bäckerei Anker wird wieder Platz genommen. Die Spazierende beobachtet das Geschehen bei einer Tasse Wildkräutertee. Eine ältere Dame kann ihr Glück gar nicht fassen. Als Geimpfte darf sie wirklich an dem nicht sehr sitzfreundlich angebrachten Ecktisch Platz nehmen und ihren kleinen Braunen sitzend genießen, den sie sonst um die Ecke im Stehen getrunken habe, wie sie erzählt. Mehr braucht sie nicht, sagt sie und geht wieder, nicht ohne sich noch einmal bei den jungen Verkäuferinnen mit den schiffchenförmigen Hauben überschwänglich zu bedanken.
Eine andere Dame überrascht nach diesen unwirtlichen und von Schreckensmeldungen gejagten Monaten mit einem menschlichen Akt, der mehr Hoffnung spendet als die große, rote, kalte Hand am Platz der sozialen Sicherheit. Sie bittet um passendes Wechselgeld, das sie dem Mann, der da draußen mit seinem Hund auf der Straße sitzt geben will, denn der habe nichts, meint sie und sie als Pensionistin habe ja doch noch immer etwas.
Wie so vieles zur Wiener (Gast)Kultur Gehörendes ist die Ankerbrot Gesellschaft einst in den 1890er Jahren von jüdischen Unternehmern gegründet worden und wurde in den 1940er Jahren wie sovieles zur Wiener (Gast)Kultur Gehörende arisiert.
Und so schließt sich der Kreis in Wien immer wieder. Es geht immer wieder ums Bleiben, ums Bleiben Dürfen.

 

Elke Papp

Sie ist Autorin und spaziert als Stadtverführerin mit Gästen und allen, die bleiben wollen quer durch Wien, durch seine Geschichte und Gegenwart, literarisch, tiefgründig und doch humorvoll leichtfüßig. Dazwischen gibt es immer wieder Oasen des Verweilens und Innehaltens. In Bälde spazieren wir wieder los!
Wer gern dabei sein will, bitte mailen: mail@stadtverführerin.at

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