9. Juli 2014

Tausendundeine Geschichte aus Wien: Bravohitsparty im Shelter

Chelsea (c) STADTBEKANNT

Warum schreckliche Songs in der richtigen Kulisse zu Jugendhymnen werden können und das Wiener Shelter auch im Erscheinungsjahr der „Bravo Hits 2317“ noch seine Daseinsberechtigung haben wird.

„I´ve been looking for Freedom“, dröhnt der Baywatchtitelsong abwechselnd aus den Lautsprechern der Musikanlage und dann wieder aus dutzenden Kehlen betrunkener Menschen, die auf der Tanzfläche zu Liedern feiern, die nie cool waren, die aber jetzt, unter dem Schleier der ins Land gezogenen Jahrzehnte, plötzlich begeistert mitgesungen werden, so als wären Sätze wie „Come on party, let´s go party“ die verlorenen Hymnen unserer Generation. Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass das Shelter an diesem Abend aus allen Nähten platzen würde – normalerweise findet man hier genau das richtige Lokal vor, wenn man richtig deprimiert ist und sich alleine an der Bar sitzend in die Besinnungslosigkeit trinken möchte. Bravohitsparty im Shelter, das ist so wie ein Exklusivauftritt von Michael Tschuggnall am Mars, aber irgendwie scheinen hier minus und minus tatsächlich plus zu ergeben.

Jenseits der Friedensbrücke

Das Lokal im erweiterten Umkreis der U-Bahnstation Friedensbrücke ist der räudige Hund der Wiener Indielokalszene, der ganz einfach nicht totzukriegen ist, obwohl er seit seiner Geburt schon am sterben war. Angefangen mit der Katastrophenlage an der Wallensteinstraße, wo es außer Jugotechno hörenden und Immobilienschnäppchen suchenden Anrainern wirklich niemanden hinverschlägt, bis zu dem irgendwo in den 90ern stehengebliebenen Musikprogramm, gibt es eigentlich keine Gründe, den langen Weg ins Shelter auf sich zu nehmen. Und dennoch gestaltet sich der zehnminütige Fußmarsch von der U4 Friedensbrücke bis zum Wallensteinplatz 8 als Pilgermarsch inmitten einer euphorisierten Menge halbwüchsiger Feierwütiger, und während ich zunächst noch denke, dass hier irgendwo in der Nähe eine richtig gute Party stattfinden muss, beseitigen sich spätestens nach dem Abstieg an der wegweisenden Altpapiertonne vorbei ins Shelter alle Zweifel des guten Geschmacks.

I´m a barbie girl, in a barbie world

Neben mir spielt ein Irrer mit langen, gelockten Haaren zu „Barbie Girl“ Luftgitarre, während ein gerade volljährig gewordenes Mädchen lauthals mitsingt, als würde sie vor Dieter Bohlen stehen und den Auftritt ihres Lebens hinlegen müssen. Mir ist nicht klar, woher sie das Lied kennt, denn zu dem Erscheinungszeitpunkt der Platte war sie gerade 2 Jahre alt – andererseits brennen sich die Textzeilen schon nach dem dritten Mal hören für immer und ewig in unsere Gehirnwindungen ein. Ich kämpfe mich zur Bar vor, leider haben die Betreiber des Shelter offenbar kein Erbarmen mit ihren Gästen und auch keinerlei Interesse daran, die miese Monatsbilanz mit einem Abend im Plus aufzubessern – trotz der erwartet vollen Hütte wurden nur zwei Kellner eingeteilt, die beide gerade ihren ersten Arbeitstag zu haben scheinen und nicht wissen, was hier gerade passiert. Nach einer Ewigkeit und drei weiteren Songs komme ich endlich dran und bestelle gleich mal auf Vorrat ein paar Wodkashots und zwei Bier, die Hälfte davon verschütte ich am Weg zurück auf einen nachrückenden Kollegen, der mir mit zwei erhobenen Daumen signalisiert, dass alles cool ist und sich tatsächlich den Arm ableckt um den verschütteten Wodka zu verwerten.

Das Wiener Nachtleben ist schwer einzuordnen, man kann nicht sagen, ob es nun richtig toll ist oder manchmal auch erbärmlich. Genau dasselbe trifft in jedem Fall auf das Shelter zu. Gestärkt von einem halbrohen Käsekrainer, den der Würstelstand direkt vor dem Lokal verkauft, wanke ich zurück zur U-Bahn, diesmal bin ich jedoch fast alleine auf der Straße, da alle anderen noch geblieben sind – denn glücklicherweise gibt es so viele Bravo Hits, dass dem DJ wohl noch lange nicht das Feuer ausgehen wird.

Kommentieren

Die Emailadresse wird nicht angezeigt