Eine Reise in den Kindheitsbezirk der großen Wiener Autorin für alle Altersgruppen

Fast alle der mehr als hundert Bücher, die die 2018 verstorbene Autorin Christine Nöstlinger seit den späten 60er Jahren schrieb, für Kinder, Jugendliche oder in Form von Mundartgedichten über sehr arme Leute für Erwachsene, die sie Kindern dann doch nicht zumuten wollte – spielen in Wien.

Nicht immer so explizit wie die „Geschichten vom Franz“, die in der Hasengasse in Favoriten spielen. Aber immer als Wien erkennbar in dem, was – zumindest in Ansätzen – Wien bis heute ausmacht, den Häusern und ihren (leider aussterbenden) HausmeisterInnen, den (leider niemals aussterbenden) grantelnden Nachbarn, den öffentlichen Verkehrsmitteln und natürlich den wienerischen Ausdrücken, die sich Nöstlinger bis zuletzt nicht verbundesdeutschen ließ.

Am Anfang war Hernals – das Haus der Geburt an der Ecke Bergsteiggasse/Geblergasse

Nöstlingers Geschichten sind zu allererst Haus-Geschichten.
Am Beginn des 1973 erschienenen autobiografischen Romans „Maikäfer flieg!“, drei Jahre nach Nöstlingers erfolgreichem Erstling „Die feuerrote Friederike“, wird das Hernalser Haus ihrer Kindheit als Schauplatz eingeführt: „Ich war acht Jahre alt. Ich wohnte in Hernals. Hernals ist ein Bezirk von Wien. Ich wohnte in einem grauen, zweistöckigen Haus. Im Parterre, die letzte Tür. Hinter dem Haus war ein Hof. Mit Abfallkübeln, mit einer Klopfstange und einem Hackstock.“
Das Haus an der Ecke Geblergasse/Bergsteiggasse taucht auch im Folgeroman „Zwei Wochen im Mai“ sowie in der Geschichte „Andreas oder die unteren sieben Achtel des Eisbergs“ von 1978 auf und mit ihm die Verwundung, die ihm der Krieg zufügte:„Die Fassade ist grau und nackt. … Eine Flying Fortress, schon nicht mehr erwartet – fünfzehn Minuten hinter den anderen, zehn Minuten nach der Entwarnung – hat den Frauenköpfen, den Säulchen, den Blumengirlanden und dem bunten Glas ein Ende gemacht.“
Nicht nur Gründerzeitdekor wurde im März 1945 besonders arg in Hernals der Garaus gemacht. Die Sprünge gehen durch Mauern, den Bezirk, die Stadt, vor allem aber durch Generationen – davon erzählte Nöstlinger in ihren Geschichten ein Leben lang.

Hernals (c) STADTBEKANNT
Hernals (c) STADTBEKANNT

Das Bassena – Kind geht ins Gymnasium in der Geblergasse

Im Haus wohnten noch die wilde Großmutter, der geliebte Großvater, die Schwester, die politisch widerständige Mutter (wegen ihrer Widerständigkeit als Kindergärtnerin frühpensioniert) und der liebenswerte, schöne und (im Krieg) „zerschossene“ Vater. Im Parterre, wo sonst nur Hausmeister wohnten. Klo am Gang und Bassena war kein Einzelschicksal, aber das Gefühl, ein Parterre-Kind zu sein hat das junge Mädchen im Gymnasium in der Geblergasse immer wieder zur Lüge gegenüber bessergestellten Freundinnen verleitet, sie wohne im ersten Stock. Zu den Schülern dieses traditionsreichen und bis heute begehrten Gymnasiums, das im Geburtsjahr der Autorin, 1936, von der Kalvarienberggasse in die Geblergasse übersiedelte, zählten der Maler Friedensreich Hundertwasser, der Exilschriftsteller Frederick Morton oder auch der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky. Ansonsten zeichnet Ehrlichkeit die oft als Anti-Pädagogin gelobte und geschimpfte Kinderliteraturnobelpreisträgerin, ursprünglich Grafikerin, aus, auch wenn es um ihr Verhältnis zum Schreiben ging, das erst in ihren 1930ern zu ihrer großen Passion wurde:
„Ich habe die Aufsätze geschrieben, die man im Gymnasium schreiben muss, erntete kaum Lob, und es hat mich auch kaum interessiert. Das hat damit zu tun, dass ich große Schwierigkeiten hatte, mich nur halbwegs hochdeutsch auszudrücken. Ich bin im tiefsten Hernals aufgewachsen und konnte nur den Wiener Dialekt.“ sagt sie in einem Interview.

Die Herren an der Als und der rebellische Heimatbezirk der Schriftstellerin

Hernals begann wie so vieles in Wien als eine Schenkung. Ein Graf schenkte 1044 dem Stift St. Peter in Salzburg zwei Grundstücke an der Als. Namensgeber des Gebietes wurden danach die Herren an der Als. Lange Zeit ein kleines Dorf oberhalb des Linienwalls wurde es zur protestantischen Hochburg unter der Familie Jörger – an sie und die grausame Vertreibung der Protestanten im 17. Jahrhundert erinnern nicht nur die nach ihnen benannte Jörgerstraße, sondern auch das erste städtische Hallenbad, das 1914 errichtete und bis heute beliebte Jörgerbad mit seiner legendären Mischung aus Jugendstil und 1970er Jahre Retrolook. Und natürlich der nach der Vertreibung errichtete Kreuzweg bei der Bergkirche (Kalvarienbergkirche). Widerständig ging es im ehemaligen Wein- und Ackerbauort Hernals mit dazugehörender Schrammelmusik (siehe das Schrammel-Denkmal am Elternleinplatz) weiter bis zu den Februarkämpfen 1934 am Türkenritthof an der Hernalser Hauptstraße. Da war Hernals schon kein Dorf mehr, sondern zum Gewerbebezirk geworden, Stichwort Manner, seit 1890 ein Familienunternehmen mit Weltruf.
Die Familie von Christine Nöstlinger (damals noch Draxler) war sozialistisch, nicht erst, als die Russen kamen, wie so viele andere, die plötzlich die Seiten wechselten. Die Russen kamen über den Wienerwald herein nach Hernals, als das Mädchen in „Maikäfer flieg!“ schon in der Sommervilla der Frau Braun (die nicht die Seite wechselte, sondern sich nach Tirol absetzte) in Neuwaldegg war, und mit der Mutter, der Schwester und dem versteckten Vater diese Villa hütete und dabei abgründig abenteuerliche Zeiten mit den ersten russischen Soldaten in Wien erlebte.

Hernals Jögerbad (c) STADTBEKANNT
Hernals Jögerbad (c) STADTBEKANNT

Endstation Neuwaldegg – grauslich süße Erinnerungen aus der Besatzungszeit

Für Mannerschnitten gab es kein Geld in der Kindheit der Autorin, nach der seit kurzem der ehemalige Lidlpark an der Lidlstraße benannt ist, in passender Lage, da die Autorin gegenüber am kurz vor der Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofs errichteten neugotischen Hernalser Friedhof begraben liegt. Die Straßenbahn 43 fährt weg von Nöstlingers ersten Lebensjahrzehnten die sich in Verfalls- und Wiederauferstehungszuständen befindliche Hernalser Hauptstraße entlang: vorbei am Eissalon der Familie Arnoldo, einer Eismacherfamilie aus dem Veneto in vierter Generation bis zur Endstation Neuwaldegg. Dort befindet die Villa Gerold, eine von Carl Hasenauer für die Familie Gerold erbaute Gründerzeitvilla, in der sich im Weltausstellungsjahr 1873 die geistige Elite aufhielt. Nicht unweit ist auch die Sommervilla der Frau Braun.
Die Familie in „Maikäfer flieg!“ fährt diesen Weg nicht mit der 43iger, denn die fährt schon seit Wochen nicht mehr. Am langen Gehweg zählt das Mädchen fasziniert die Bombentrichter: „Auf der Alszeile gab es besonders schöne Bombenlöcher. Dort fließt nämlich unterirdisch die Als in einem untermauerten Gewölbe. Die Bomben hatten die dicke Straßendecke zerschlagen.“
In Neuwaldegg, einer der Sommerfrischedestinationen der Monarchie ist dann Schluss mit Bomben: „Meine Mutter sagte: „Weil das Bombenverschwendung wäre. Da könnten sie mit einer Bombe höchstens vier Leute umbringen … Ich verstand es und freute mich sehr, in einer Gegend zu sein, die für Bomben zu teuer war.“
Hier in Neuwaldegg zwischen Villen und alten Bäumen wirken Nöstlingers Geschichten besonders stark: als Zeitdokument einer Verteidigerin von Außenseiterfiguren wie dem verunstalteten Soldatenkoch, den alle fürchten und nur die kleine Hauptprotagonistin unendlich liebt, verfasst mit unerbittlichem Humor und der Überzeugung, dass über das Geschehene nicht geschwiegen werden darf.

 

Elke Papp

Bald gibt es „Unterwegs in Hernals mit Christine Nöstlinger“ Touren mit der Stadtverführerin und viele andere literarisch inspirierte, geschichtenreiche Erkundungen in Wien. Interesse an Programm? Schreibt an: mail@stadtverfuehrerin.at

 

Fotos

    5.0

    Walter Bohak

    Einfach Klasse!

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