23. November 2014

Gesichterjunkie

Ich merke sie mir gerne und manchmal vermute ich, beinahe alle. Das der Kassiererin vom Urlaubssupermarkt. Das des Assistenzlehrers aus der Volksschule und jenes des Typen aus dem Fernsehen. Typen aus dem Fernsehen? Mitunter braucht es eine Weile, bis es mir wieder einfällt. Den da kenne ich sogar nackt. Woher? Ja woher bloß… achso, aus dem Fernsehen!

Ich erkenne Gesichter von der Weite, spreche sie gerne an, möglicherweise beschert es erkenntnisreiche Momente. Sie waren doch in meiner Schule? Kennen wir einander nicht von früher? Früher? Kindergarten! Der aus dem Kindergarten dachte, ich wollte ihn anbaggern. Der war schon als Fünfjähriger besonders blöd. Ein gutes Gedächtnis kann eben auch hinderlich sein. Für das Vergessen und Verdrängen zum Beispiel. Ständig wird man erinnert, obwohl man doch lieber vergessen möchte. Ich müsste diese Stadt schon verlassen, damit mein Leben nicht fortwährend an mir vorüber marschierte. In einer Möbiusschleife gefangen. Manchmal marschiere ich dafür ins Leben der anderen. In Mexiko zum Beispiel. Da hielt mir einer das Bild seiner Verflossenen entgegen und sagte: From Burgenland. Burgenland? Tatsächlich! Sie hatte gewisse Ähnlichkeiten. Ich war es nicht. Ich war das erste Mal an diesem Ort und wollte nur nach dem Weg fragen. Verwechslungen passieren eben. Überall auf der Welt. Mir aber nicht. Sicherlich. Ich tippe meistens hundertprozentig. Egal wo, egal wann, egal wie viel Zeit es mich kostet. Nein wirklich, die nehm’ ich mir. Entschuldigung, sie haben mich doch letztens behandelt. Ja genau, Notfallambulanz, hochschwanger, vier Uhr morgens. Nur ‚Danke noch einmal’, wollte ich Ihnen sagen. Wie Sie sehen, habe ich nun alles überstanden.

Ich erkenne auch so genannte Berühmtheiten. Melanie Griffith am Flughafen, Terminators-Gefährtin auf den Straßen von LA, Billy Wilder in einem Cafe am Rodeo Drive. Letzteren überließ ich aber meiner Freundin, sie konnte am besten English. Bedauerlicherweise ließ sie es dann doch bleiben. Is this seat available? Das Einzige, was über ihre Lippen kam. Auf English also. Na gut, wir waren erst vierzehn und noch nicht ganz so weltoffen und mit diesem speziellen Weitblick. Die Geschichte erzählen wir einander aber trotzdem noch gerne. Als Beispiel dafür was eben nicht geschah.
Seit ich nicht mehr so viel reise, muss ich mich mit lokalen Größen zufrieden geben. Davon gibt es dafür jede Menge und wirklich überall. Beim Friseur, in der U-Bahn, am Berggipfel. Man drängelt sich eben auf engem Raum und entkommt einander kaum. Pro Tag ein Spaßvogel aus den Medien. Mindestens. Manchmal erinnere ich mich auch zu spät, woher ich sie oder ihn kenne und grüße trotzdem recht freundlich. Manchmal, ja manchmal grüßt einer von denen dann zurück. Ein alter Spezi oder freundlich aus Leidenschaft. Danke dass sie mich erkennen. Bitte, sehr gerne, ich bin eben ein Junkie, was Gesichter betrifft.

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