28. Mai 2010

Der nie über die Klippe stürzen wollte

Am Schluss handelte er konsequenter als seine eigene Romanfigur. Während Holden Caulfield, die Hauptfigur von J. D. Salingers Hauptwerk „Der Fänger im Roggen“, sich zu Ende des Buches gegen eine Flucht in die Einsamkeit entscheidet setzte der Autor selbst diese Phantasie um. Er verschwand. Und ließ damit reichlich Raum für Spekulationen.

Von 1965 bis zu seinem Tod vergangenen Mittwoch im Alter von 91 Jahren veröffentlichte Jerome David Salinger, der am 1. Januar 1919 in New York zur Welt gekommen war, kein einziges Werk mehr. Wegen seines äußerst zurückgezogenen Lebensstils in dem kleinen Städtchen Cornish im US-Bundesstaat New Hampshire kam sogar das Gerücht auf er sei identisch mit dem zweiten großen Phantom der US-amerikanischen Literatur, Thomas Pynchon, der etwa zeitgleich mit Salingers Rückzug am Buchfirmament erschien.

Nie mehr wollte er sich mit all den Menschen auseinandersetzen müssen, die seiner Meinung nach nur „phony“ (in dt. etwa „verlogen“, „heuchlerisch“) waren, wofür ihn viele als verschrobenen Sonderling abtaten, andere aber auch kultisch verehrten.
Wenige andere Bücher und ihre Autoren zogen eine solche Anzahl von „Jüngern“ an wie es Salinger mit seinem „Fänger im Roggen“ schaffte. So berief sich der Mörder von John Lennon, Mark David Chapman, auf den Roman, in dem der Auftrag an ihn versteckt gewesen sein soll den Beatle umzubringen und auch Wirrkopf Charles Manson fühlte sich laut eigener Aussage als „Fänger im Roggen“.
Dieser „Fänger“ will im Roman die in einem Roggenfeld an einer steilen Klippe spielenden Kinder davor bewahren in den Abgrund zu stürzen. In dem lauert nämlich der verlogene und spießbürgerliche Lebensstil der Erwachsengesellschaft.

Eine Welt gegen die Salinger zeitlebens einen Kampf zu führen schien, der ihn schlussendlich in die innere Einkehr trieb. Schreiben wollte er und seine Ruhe haben vor der bornierten und heuchlerischen Welt. Trotzdem er schon seit Jahrzehnten nichts mehr veröffentlicht hatte schrieb er laut eigenen Angaben und Schilderungen von Bekannten die ganze Zeit über immer noch weiter. Gleichsam taub und stumm, wie die Hauptfigur des „Fängers“ Holden Caulfield es sich an einer Stelle des Buches wünscht. Da konnte es ihn nicht einmal anfechten, als ihn 1967 Frau und Kinder in der von ihm gewählten Einöde verließen.
Sein innerer Kampf schien der schwer Weltkriegstraumatisierte dort zur Ruhe gebracht zu haben, den äußeren führte er mit Vorliebe gegen Biographien und Plagiatsversuche. Letztmalig geschah dies im vergangenen Jahr, als ein schwedischer Schriftsteller unter dem Namen „Years Later: Coming Through The Rye“ sein Erfolgsbuch fortsetzen wollte.

Nach dem riesigen Erfolg von „Der Fänger im Roggen“ 1951 veröffentlichte Salinger noch „Neun Erzählungen“ (1953), „Franny und Zooey“ (1961), „Hebt den Dachbalken hoch Zimmerleute und Seymour wird vorgestellt“ (1963) und „Hapworth 16, 1924“ (1965). Dann wurde es still bei J. D. Salinger, nicht aber um ihn. Noch heute, nach 65 Millionen verkauften Exemplaren des „Fängers im Roggen“ weltweit, wird an und in seinen Werken interpretiert, ausgelegt, gedeutet, erklärt und hineingeheimnisst. Ihn wird auch das nicht mehr anfechten, seine Ruhe ist ihm jetzt sicher.

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