30. November 2010

Das Wort zum Tatort: Zwischen Tumor und Terror

Die diversen Tatort-Ermittler kann man eigentlich sehr gut mit der mittelalterlichen Temperamentenlehre kategorisieren: Neben Cholerikern wie Schimanski, Phlegmatikern (Moritz Eisner), Sanguinikern und Melanchonikern gibt es nun auch Felix Murot, LKA Wiesbaden. In welche Kategorie genau der Neue einzuordnen ist wird sich noch klären.


Am Anfang war die Haselnuss

Das erste was wir von Murot erfahren ist, dass er einen Gehirntumor hat. Etwa haselnussgroß, ob gut oder bösartig wird nicht geklärt da Murot vor einer Biopsie fluchtartig das Krankenhaus verlässt. Dieser Haselnusstumor ist auch für die Wahrnehmungsverzerrungen und Realitätswahrnehmungsstören verantwortlich, die plötzlich Murots Rezeption stören. Immer wieder folgt die Kamera Murots Blickwinkel. Dann hört man im Hintergrund wie ein Rauschen Fetzen von 40er-Jahre-Polycolor Musik, die Welt wird nur mehr im Tunnelblick wahrgenommen, Geräusche, Stimmen dringen wie durch Watte an ihn heran. Viel Zeit bleibt Murot gedoch nicht über seinen Tumor nachzudenken, die Arbeit ruft:

Am Edersee in Hessen treibt ein Ruderboot mit grausigem Inhalt: Im Boot liegt die Leiche eines Mannes, erschossen mit einer Waffe, die vor Jahrzehnten bei einem  RAF Überfall erbeutet wurde. Es deutet zwar alles auf Selbstmord hin, doch die brisante Herkunft der Tatwaffe sorgt dafür, dass sicherheitshalber das Landeskriminalamt eingeschaltet wird.

Tatort goes Politthriller

Nach und nachstellt sich heraus, dass es sich bei der Leiche um einen Schmierblattjournalisten handelte, der offenbar einer untergetauchten RAF-Terroristin auf der Spur war. Es dauert nicht lange und Murot erhält Instruktionen von ganz oben, den Fall fallenzulassen – das erste Indiz, dass es bei dieser Geschichte nicht mit rechten Dingen zugeht.

Am Edersee wird Murot auch mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, sein verstorbener Vater leitete hier einst die Kirchengemeinde. In den Gesprächen mit Dorfbewohnern lernt der Zuschauer den neuen Kommissar besser kennen. Ein sehr moralischer Mann ist dieser Felix Murot, vielleicht mit einem leichten Vaterkompex, sicher auch ein Einzelgänger. Die Ermittlerfigur des Felix Murot ist anders als andere Tatort Komissare. Sie erinnert ein wenig an die beiden Fernseheigenbrötler Kurt Wallander und Grissom von CSI, also alles Männer die eher auf ihre Intuition als auf ihre Vernunft hören. Das Einsiedlertum hält  Murot aber nicht davon ab mit der melanchonisch schönen Pensionsbesitzerin Jana Maitner anzubandeln, die ihn an seine Jugendliebe Lilly (so auch der Titel der Folge „Wie einst Lilly“) erinnert.

In der ersten Hälfte der Folge liegen auch ihre Stärken: Berückend schöne Bilder vom nebelverhangenen Ebersee kreiert Kameramann Bernd Fischer, gut gelungen der Realitätenzusammenfall von Wirklichkeit und Murots tumorbedingter Wahrnehmung, auch die vorsichtige sensible Vorstellung des neuen Kommissars ist für Tatortverhältnisse äußerst feinfühlig.

Schwierig wird es dann im zweiten Teil, wenn Murot einen alten RAF Anschlag, der starke Parallelen zu dem tatsächlichen Anschlag auf den Industriellen Buback aufweist, aufdeckt und die Mitwisser bis in den höchsten Polizeikreisen zu finden sind. Hier haben die Drehbuchautoren den Mund zu voll genommen: Die Handlung wirkt wackelig, wenig glaubhaft. Auch wenn es schön ist, dass Tatort offenbar immer noch nach all den Skandalen und Skandälchen versucht, die Grenzen des deutschen Publikums auszuloten indem es brisante und nach wie vor heißdiskutierte Themen wie die RAF wieder ins mediale Rampenlicht rückt.

Dennoch: Angesichts der ungewöhnlichen visuellen Stärken und der großen Originalität des neuen Ermittlers nimmt man diese inhaltlichen Schwächen gerne hin. Zumindest einen zweiten Fall wird es geben, das Drehbuch liegt schon vor. Man darf also auf die weitere Geschichten mit der Haselnuss gespannt sein.  

Tatort Topkino

Im Topkino gibts übrigens jeden Sonntag ein Tatort Public Viewing – bei freiem Eintritt und mit dem Highlight Snipcard Täterraten, bei dem es auch noch Freigetränke zu gewinnen gibt. Snipcards findest du an diesen Standorten.

Kommentieren

Die Emailadresse wird nicht angezeigt