Wir verstehen uns ja in erster Linie als Stadtmagazin und berichten deshalb vornehmlich über Ereignisse in Wien. Wenn aber Weltbewegendes passiert, melden wir uns doch zu Wort, über die Mondlandung hätten wir schließlich auch berichtet.
Heute ist so ein denkwürdiger Tag, denn mehr als 30 Millionen US-AmerikanerInnen werden eine Krankenversicherung erhalten. Das teuerste und zugleich ineffizienteste Gesundheitssystem der Welt wird endlich einer Generalsanierung unterzogen.
Wir freuen uns für Jerome Mitchel, einen jungen Mann aus South Carolina, der an HIV erkrankte und dem eine falsche handschriftliche Notiz einer Krankenschwester die Kündigung seiner Versicherung einbrachte. Der Krankheitsausbruch wurde irrtümlich auf einen Zeitpunkt vor Abschluss seiner Versicherung vordatiert. In vielen Bundesstaaten, so auch South Carolina, war es Versicherern möglich, Menschen die Erkrankungen hatten, die bereits vor Versicherungsabschluss existierten, den Versicherungsschutz zu entziehen. Obamacare macht diese Praxis in Zukunft unmöglich.
Wir freuen uns für alle, deren ArbeitgeberInnen keine Krankenversicherung für sie abgeschlossen haben und die sich keine eigene leisten konnten. In Zukunft wird fast niemand mehr Angst haben müssen, wenn die Zähne schmerzen, oder wenn eine chronische Krankheit diagnostiziert wird. Bei größeren Firmen gibt es zukünftig einen verpflichtenden Versicherungsschutz, bei kleineren unterstützt der Staat die Versicherten finanziell.
Wir freuen uns für all diejenigen, die seit Jahren keinen Arzt mehr gesehen haben, ihr Leben wird ein besseres sein. Wir freuen uns für chronisch Erkrankte, denen ihre Versicherung den Versicherungsschutz gestrichen hat, dies wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Wir freuen uns für Menschen mit hohem Blutdruck, oder Übergewicht, keine Versicherung in den USA wird sie in Zukunft mehr ablehnen können und mit all denjenigen die hier ihre teils schrecklichen Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem berichteten, da sie in Zukunft ein sorgenfreieres Leben haben werden.
Wir hoffen, dass die Gruppen, die auch zukünftig nicht krankenversichert sein werden, beispielsweise illegale EinwandererInnen, in weiteren Reformschritten noch inkludiert werden.
Wir erinnern daran, dass auch in Österreich 100.000 Menschen keinen Versicherungsschutz haben und jeder Arztbesuch für sie ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wann wird das eigentlich endlich geändert?
Der Kampf um HealthCare war der größte Kulturkampf, den die USA in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben. Mit einer beispiellosen Kampagne haben Glen Beck, Sarah Palin und Fox News gegen diese Reform gehetzt. Angebliche Todesgremien der US-Regierung, die alte Leute umbringen würden, wurden erfunden, eine angebliche sozialistische Geheimpolitik Obamas herbeifabuliert. Hier ein großartiges Video des großartigen John Stewart zu diesem Thema.
Big Pharma gab Abermillionen aus, um diese Reform zu verhindern. Das Tea Party Movement, eine Bewegung rechter US-AmerikanerInnen, die großen Einfluss auf die Republikaner hat, übte über Monate massiven Druck gegen diese Reform aus, gestern wurde sogar das Kapitol gestürmt. Jetzt kommt die Reform dennoch. Deshalb ist heute ein denkwürdiger Tag, der die Welt ist ein bisschen besser macht, als sie gestern noch war.
Seit Jahrzehnten wurde über diese Reform gestritten und doch gelang nie ein universeller Versicherungsschutz für alle US-BürgerInnen. Durch das beharrliche Festhalten an dieser Vision wurden nun Tatsachen geschaffen, die sich nicht so einfach wieder rückgängig machen werden lassen. Im Gegenteil, es ist wahrscheinlich, dass weitere Reformschritte das Gesundheitssystem in Zukunft weiter verbessern.
Es zeigt sich, wie groß der Gestaltungsspielraum der Politik immer noch ist, wenn sie nur beharrlich an einer Vision festhält. Interessant auch für unsere PolitikerInnen. Wäre es nicht auch für sie schön, einen Unterschied zu machen? 219 Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses haben gestern einen Unterschied gemacht und alle Lügen gestraft, die sie für bloße LobbyistInnen großer Konzerne hielten.
Könnt ihr euch noch an die letzte Vision, die nichts mit AusländerInnen zu tun hatte, erinnern, an der PolitikerInnen irgendeiner Partei in Österreich, mit solcher Beharrlichkeit festgehalten haben? Wir nicht und wollen deshalb in Abwandlung eines alten Spruchs festhalten: „Wer keine Visionen hat, braucht einen Arzt, oder eine Ärztin!“