14. Juni 2017

Am Karlsplatz wird täglich gestorben

U-Bahn Abgang (c) STADTBEKANNT

#geschichtenauswien

Warum ein wackeliges Handyvideo für uns schlimmer ist als die Realität, an der wir jeden Tag vorbeigehen.

 

Ein auf VICE und dem Falter verbreitetes Video von einem Studenten, der in einer Polizeistation vergeblich um Hilfe für einen zusammengebrochenen Mann am Karlsplatz bittet, sorgt heute für Aufruhr in Wien. Der erste Schritt der Zuseher führt auf Facebook und Twitter, um die Bestürzung über das desinteressierte und arrogante Verhalten der Beamten auszudrücken. Nach einer längeren Reflexion wird der anklagende Student selbst zum Mittäter erklärt, weil er doch bitte schön anstatt zu filmen selbst dem potentiell in Lebensgefahr befindlichen Mann hätte helfen können. Die Entrüstung ist groß, und sie ist es vor allem deshalb, weil wir ihren Auslöser selbst tagtäglich erleben. Man muss nicht mehr auf den verrufenen Karlsplatz schauen, um auf der Straße liegende (Schlafende? Tote?) Menschen zu sehen. Man benötigt kein im richtigen Moment aufgenommenes Video, das sich medial verbreitet – man könnte sogar problemlos selbst eines schießen, auf der Mariahilfer Straße oder am Gürtel. Lediglich von Touristen stark frequentierte Zonen wie die Innere Stadt werden penibel aufgeräumt. Die Obdachlosen wissen mittlerweile, dass sie vor den zahlenden Besuchern aus aller Welt nicht zusammenbrechen dürfen, sondern nur allein in einer Ecke. Abseits dieser fremdenverkehrstauglichen Schutzzonen herrscht Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die offenbar Hilfe benötigen, selbst wenn sie gerade bei Bewusstsein sind.

 

Reality TV

Ich selbst meide Gebiete wie den Naschmarkt mittlerweile. Zu sehr fühle ich mich beim Genuss meiner Melange gestört von den Bettlern, die im Minutentakt um Geld bitten. Vor zehn Jahren wurde man auf den Einkaufsstraßen der Stadt gerade einmal von den achtzehnjährigen Studenten im Amnesty International T-Shirt angeschnorrt, die uns Fotos von hungernden Menschen in Afrika zeigten. Die Spendensammler haben es heute schwer, obwohl sie keine Bilder mehr brauchen, denn mittlerweile sitzt dieses Foto an jeder Ecke der Stadt. Wir alle blenden das aus und gehen daran vorbei – wenn es aber auf Video festgehalten wird, wird uns plötzlich wieder bewusst, wie gleichgültig wir als Gesellschaft geworden sind.

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