29. Mai 2013

Die Grätzln

Wie ist das mit den Grätzln?

Wenn einer behauptet, des Wieners Horizont endet bei der Stadtgrenze, so könnte er zur Antwort bekommen: Diese Stadt ist so schön, dass man erst gar nicht in die Welt hinaus reisen muss. Das rührt daher, dass der Wiener einen engen Bezug zu seinem Wien hat. Dabei ignoriert er gerne, dass Wien eigentlich Produkt jahrhundertelanger Migration ist; von den meisten Familiennamen bis zur Topfengolatsche. In dieser Stadt ist alles fremd – bis es dazugehört. Gehört es einmal dazu, kann es nie fremd gewesen sein. Deswegen erscheint Wien statisch, ohne es zu sein. Insofern hatte der Wiener Literat Alfred Polgar nur bedingt recht, wenn er sagte: „Ich muss über diese Stadt ein vernichtendes Urteil abgeben: Wien bleibt Wien.“

Die Affenliebe zu seiner Heimat endet für den Wiener sogar oft schon an der undefinierten Grenze seines Grätzls. Die Bedeutung sei am Beispiel des Autors dieses Buches verdeutlicht, der in der Salzergasse im 9. Bezirk (Alsergrund) aufwuchs: Gegenüber anderen Bundesländerern sieht er sich als Wiener. Gegenüber allen Bewohnern aus den Bezirken über der Donau (21. und 22. – auch Transdanubien, also „Drübendonau“ genannt) ist er immer der echte Wiener oder der Cisdanubier. Lädt ihn ein Transdanubier zu sich nach Hause ein, quittiert er das gerne mit dem Satz „Na, da muss ich mir noch ein Visum besorgen“. Gegenüber anderen Cisdanubiern ist er „Alsergrunder“. Wenn er auf einen anderen Bewohner seines Bezirkes trifft, wird er zu dem, was er im tiefsten Inneren ist: ein Lichtenthaler. Das Lichtenthal ist eines von mehreren Grätzln des 9. Bezirks.

Der Ausdruck Grätzl kommt wahrscheinlich vom mittelhochdeutschen „gereiz“ für die gerissene Grenze einer Gegend, ein Umkreis. Die identitätsstiftenden Grätzln sind soziale, nicht genau definierte Einheiten. In anderen Städten sagt man „mein Viertel“, „mein Block“ oder „my hood“.

Die Grätzln entstanden aus ein paar Gassen, aus Wohngebieten, Siedlungen, Vororten, Zentren des alltäglichen Lebens, manchmal rund um Kirchen und Märkte, seltener aus politischen Einheiten (einige Grätzln sind ident mit einer der 89 Wiener Katastralgemeinden). Wenn Kinder früher strawanzen gingen und die Eltern sie mit „aber net zu weit weg“ ermahnten, dann hieß das: „Bleib im Grätzl.“ Wenn Familie der kleinste Radius im Leben ist, ist Grätzl der nächstgrößere auf dem Weg in die große Welt.

Der Autor dieses Buches lebt übrigens seit einigen Jahren in Strebersdorf, einem Grätzl des 21. Bezirks (Floridsdorf). Seitdem verteidigt er natürlich inbrünstig das Leben in Transdanubien. Und ist überzeugter Strebersdorfer. Das ist für einen Wiener in seiner engstirnigen Flexibilität wunderbar vereinbar.

Die Wiener Grätzln variieren, verschwinden, bilden sich neu und werden teilweise unterschiedlich bezeichnet und wahrgenommen. Eine Stadt ist eben im Fluss. Der Autor einigte sich mit sich selbst auf folgende Grätzl:

1. Bezirk (Innere Stadt): Rudolfsplatz–Salzgries–Kai (ehemaliges „Textilviertel“, heute eher ein Gastroviertel); das Viertel hinter dem Stephansdom ist das älteste Grätzl, hat aber keinen Namen (Singerstraße–Schulerstraße–Blutgasse–Domgasse–Grünangergasse–Kumpfgasse); ein neues Grätzl bildet sich derzeit um die „Goldene Einkaufsmeile“ oder „Luxusviertel“ (Tuchlauben–Bognergasse–Kohlmarkt–Graben).

2. Bezirk (Leopoldstadt): Kameliterviertel; Zwischenbrücken; Volkert- (bzw. Nordbahn-) und Alliiertenviertel; Stuwerviertel; Jägerzeile (Venediger Au); Wurstelprater; Prater; Pratercottage; das neu entstandene und noch nicht abgeschlossene Grätzl „Viertel Zwei“; Wiener Hafen; Freudenau.

3. Bezirk (Landstraße): Erdberg; Weißgerberviertel; Gasometer; Aspanggründe; Fasanviertel; Botschaftsviertel, Rochusviertel.

4. Bezirk (Wieden): Schaumburgergrund; Hungelbrunn; Karlsplatz-Resselpark; Freihaus- und Schleifmühlviertel.

5. Bezirk (Margareten): Margaretenplatz; Nikolsdorf; Matzleinsdorf; Hundsturm; Laurenzergrund; Reinprechtsdorf.

6. Bezirk (Mariahilf): Eher historisch: Laimgrube; Windmühle; Magdalenengrund; Gumpendorf; Mariahilf. Moderner: Naschmarkt; Gumpendorfer Straße/Apollo/Barnabitengasse; Mariahilfer Straße.

7. Bezirk (Neubau): Neubau; Altlerchenfeld; Sankt Ulrich; Schottenfeld; Spittelberg; MuseumsQuartier; Mariahilfer Straße.

8. Bezirk (Josefstadt): Josefstadt; Altlerchenfeld; Alsergrund; Breitenfeld; Strozzigrund.

9. Bezirk (Alsergrund): Alservorstadt (mit dem Alten AKH); Althangrund; Himmelpfortgrund; Lichtenthal (Schubertviertel); Michelbeuern (mit dem Neuen AKH); Roßau; Thurygrund.

10. Bezirk (Favoriten): Favoriten (Fußball: Wiener Austria); Oberlaa; Laaer Berg mit dem Böhmischen Prater; Per-Albin-Hansson-Siedlung; Unterlaa; Rothneusiedl; Inzersdorf-Stadt; Wienerberg; derzeit entstehen beim neuen Wiener Hauptbahnhof das neue Quartier Belvedere und das Sonnwendviertel.

11. Bezirk (Simmering): Simmering; Kaiserebersdorf; Albern; Simmeringer Haide; Hasenleiten; Gasometer; Mautner-Markhof-Gründe; Zentralfriedhof; Leberberg; Herderpark; Geiselberg.

12. Bezirk (Meidling): Untermeidling; Gaudenzdorf; Hetzendorf; Obermeidling; Altmannsdorf; Grätzl-ähnliche Strukturen in den großen Gemeindebauten (Am Wienerberg, Am Schöpfwerk, Kabelwerk).

13. Bezirk (Hietzing): Hietzing (Schloss und Tiergarten Schönbrunn, ORF-Zentrum); Lainz (mit Lainzer Tiergarten); Unter St. Veit, Ober St. Veit; Hacking; Speising; Napoleonwald; Roter Berg.

14. Bezirk (Penzing): Penzing; Breitensee; Baumgarten; Hütteldorf (Fußball: Rapid, Hanappi-Stadion); Baumgartner Höhe (Am Steinhof); Hadersdorf; Auhof; Mauerbach (Hohe-Wand-Wiese, Skipiste).

15. Bezirk (Rudolfsheim-Fünfhaus): Fünfhaus und Neu-Fünfhaus; Schmelz; Nibelungenviertel; Neu-Penzing; Sechshaus; Rustendorf; Reindorf; Braunhirschen; Sparkassenplatz; Meiselmarkt; Schwendermarkt; Westbahnhof; Stadthalle (Lugner City).

16. Bezirk (Ottakring): Ottakring; Neulerchenfeld; Brunnenmarkt–Brunnenpassage–Yppenmarkt; Thaliastraße; Grundsteingasse; Hasnerstraße–Ottakringer Bahnhof (U3); Liebhartstal; Sandleitenhof; Schloss Wilheminenberg; Gallitzinberg.

17. Bezirk (Hernals): Hernals; Elterleinplatz–Kalvarienberg; Gschwandnergasse; Dornbach (Fußball: Wiener Sportklub); Alszeile; Heuberg; Schafberg; Neuwaldegg; Schwarzenbergpark.

18. Bezirk (Währing): Währing; Gertrudplatz (Kutschkermarkt); Aumannplatz (Schubertpark); Weinhaus; Gersthof; Cottageviertel (Türkenschanzpark), Pötzleinsdorf (Schlosspark); Schafberg.

19. Bezirk (Döbling): Oberdöbling; Cottageviertel; Saarplatz; Unterdöbling; Hohe Warte (Fußball: First Vienna Football Club mit dem Hohe-Warte-Stadion); Heiligenstadt; Karl-Marx-Hof; Grinzing; Kaasgraben; Neustift am Walde (Salmannsdorf); Hackenberg; Sievering; Nussdorf; Kahlenbergerdorf (auf dem Kahlenberg: Josefsdorf), Glanzing, In der Krim.

20. Bezirk (Brigittenau): Brigittenau; Zwischenbrücken; Grätzlbildung vor allem rund um die Plätze Gaußplatz, Wallensteinplatz, Brigittaplatz, Sachsenplatz, Hochstädtplatz, Friedrich-Engels-Platz, Allerheiligenplatz; Hannovermarkt; rund um den Millennium Tower bildete sich auch eine Grätzl-ähnliche Struktur.

21. Bezirk (Floridsdorf): Floridsdorf; Am Spitz; Schlingerhof/Schlingermarkt; Jedlesee (Karl-Seitz-Hof); Schwarzlackenau; Großjedlersdorf; Strebersdorf; Stammersdorf; Leopoldau; Großfeldsiedlung; Donaufeld; (rechtes Donauufer: Bruckhaufen; Arbeiterstrandbadstraße/Angelibad; linkes Ufer: An der Oberen Alten Donau; Mühlschüttel).

22. Bezirk (Donaustadt): Kaisermühlen; Gänsehäufel (Insel in der Alten Donau); Donaupark (mit Donauturm und der Arbeiterstrandbadstraße); Donau City (das Wiener Hochhauszentrum internationalen Flairs mit Wohnungen und Büros entstand auf der sogenannten Donauplatte rund um das Vienna International Center/UNO City); Kagran; Rennbahnsiedlung; Stadlau, Hirschstetten; Aspern; Breitenlee; Süßenbrunn; Eßling; Lobau (22 Quadratkilometer großes Augebiet und Teil des Nationalparks Donau-Auen).

23. Bezirk (Liesing): Mauer; Atzgersdorf; Erlaa (der Wohnpark Alt-Erlaa ist als klassische Satellitenstadt mit eigener Infrastruktur ein eigenes Grätzl); Inzersdorf; Kalksburg; Rodaun; Liesing; Siebenhirten.


„Darf’s a bisserl mehr sein?“

Weitere Fragen zu Wien und deren interessante Antworten findest du in Wann verlor das Riesenrad seine Waggons? von Axel N. Halbhuber erschienen im Metroverlag.  

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