16. Mai 2011

Berlin – Abenteuer Tram.

Während eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien eine durchwegs anonyme Begebenheit darstellt, während derer sich, von einigen nörgelnden und bissigen Kommentaren einmal abgesehen, die Kommunikation zwischen den Fahrgästen auf argwöhnische und skeptische Blicke aus den Augenwinkeln heraus reduziert, kann eine Durchquerung der Stadt von A nach B in Berlin durchaus unterhaltsam werden.

Sozialstudie M10.

Viele von euch werden sie vielleicht während des einen oder anderen Berlin-Aufenthaltes kennen gelernt und, so dies der Fall war, auch in Erinnerung behalten haben: die Metrotram M10, die die Warschauer Brücke im wilden Osten mit dem Nordbahnhof im gediegeneren Norden und auf dieser Strecke von weit über einer halben Stunde Fahrt unzählige Bars, Clubs und Restaurants miteinander verbindet und die selbst auf der Homepage der Berliner Verkehrsbetriebe als „Nachtschwärmer-Express“ bezeichnet wird. Ist die M10 tagsüber noch mäßig oder zumindest nicht überraschend voll, so ändert sich dieser Zustand mit fortgeschrittener Stunde kontinuierlich bis zu dem Punkt, ab dem die Fahrgäste beginnen müssen, sich kunstvoll über- und untereinander zu stapeln, um noch ein kleines Luftloch zu ergattern.

Die Mischung der Personen ist dabei eine zuverlässig bunte und reicht von schon und noch beduselten und demnach äußerst mitteilungsfreudigen Nachtschwärmern über ausgelaugte Arbeitstüchtige auf dem heiß ersehnten Heimweg bis hin zu Paradiesvögeln, die keine Wünsche an die menschliche Fantasie offen lassen. Dass diese dicht gedrängte Mischung viel Stoff für Unterhaltung bietet, ist wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich:

Station Warschauer Brücke.

Ein dezent gelangweilt und desinteressiert aussehender Herr um die 40 Jahre sitzt neben einem etwa 25-Jährigen mit in die Knie gestemmten Fäusten, stramm durchgedrücktem, aufrechtem Rücken und auf sein Gegenüber starr fokussiertem Blick. Ab und zu nur wandert dieser Blick auf die losen Schnürsenkel seines Sitznachbarn, welcher diesen mit langsam aufkommendem Amüsement gekonnt ignoriert, bis der Stramme es schließlich nicht mehr aushält und kurz bellt: „Schnürsenkel offen!“ Wieder kurzes, immer offenkundigeres Amüsement und Ignorieren. „Schnürsenkel OFFEN!“ Letztendlich erbarmt sich der Verwahrloste doch, bindet langsam und gemächlich seine Schuhe den Vorschriften gemäß wieder zusammen und säuselt freundlich: „Na, haben wir die deutsche Ordnung jetzt wieder hergestellt?“ Kurzes, zufriedenes Nicken, der Blick wird wieder nach vorne gerichtet und die Fahrt geht weiter zur …

Station Frankfurter Tor.

Hier gesellt sich einer jener Gesellen dazu, die das Stadtbild unverkennbar und im Vergleich zu Wien auf eine nicht unbedingt ungern gesehene Art und Weise prägen und für eine große Portion an Unterhaltung, Abwechslung und teils Staunen sorgen. Unauffällig drängt er sich in die grölend wankende Masse hinein, um sich anschließend so zentral wie möglich zu positionieren und mit seiner Gitarre die ersten Takte zu „Wonderwall“ anzustimmen. Nachdem ihm bereits innerhalb der ersten Sekunden einige anerkennende Blicke ob seiner Stimmgewalt zugeworfen werden, beginnen die ersten, leise mitzusummen und andere, daneben Stehende anzustecken, bis plötzlich die ganze M10 in ein durchaus hippiesk wirkendes und trotzdem Gänsehaut hervorrufendes Singen versinkt – mit ziemlich großer Sicherheit ein sehr lukrativer Auftritt für den jungen Herrn und ein absolut überraschender Moment für mich.

Station Winsstraße.

Zwei, von einem nüchternen oder gar annähernd zurechnungsfähigen Zustand meilenweit entfernte Russen steigen mit hochroten Köpfen und jeweils einer Vodka-Flasche in der Hand ein. Minutenlang besteht ihr Gespräch miteinander aus der brüllend ausgedrückten Freude darüber, sich in der M10 zu befinden, eine Tatsache, die sie zufrieden grinsend jedem mitteilen, der es gerne oder auch weniger gerne hören möchte. Nachdem sie sich also mehrere Stationen lang von einem Fahrgast zum nächsten voran hanteln, immer wieder in den einen oder anderen hinein fallen oder darüber stolpern, beschließt der Kräftigere der beiden abrupt das Ende der Fahrt. Der Gefährte wird, sich zwar wehrend, aber dennoch weiterhin selig „M10!!!“ vor sich hin brüllend, am Kragen gepackt und auf den Bahnsteig geschleudert, wo die Freudenschreie im Gelächter der Fahrgäste untergehen. Wir winken alle nach.

Station Eberswalder Straße.

Ich steige aus, habe meine soziale Neugier befriedigt, bin um vieles an großstädtischer Erfahrung reicher und kann eine Fahrt mit der M10 bei aufkeimender Langeweile jedem nur wärmstens ans Herz legen.

2 Kommentare

  1. Ina

    27. Januar 2011

    Das ist ja fast so toll wie die
    U4 nach einem Match von Rapid. Da gehts auch imemr lustig zu.

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  2. crevativ

    24. September 2011

    Berlinerin in Wien
    Beim Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel in Berlin geht man immer mit einer gewissen Erwartungshaltung ran. Es ist nie langweilig auf einer Fahrt. Da wir Berliner "frei Schnauze" sind, bekommt man doch nebenbei lustige oder interessante Stories zu hören, kann sich an der Kleidung anderer Leute satt sehen und darf ab und zu auch auditiv am Lieblingstrack eines Handybesitzers teilhaben. Und im Zentrum Berlins wird man öfter von Musikern aller couleur für mind. eine Bahnstation begleitet. Ist das nicht herlich? 🙂

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