13. Februar 2014

Tausendundeine Geschichte aus Wien

Zentralfriedhof (c) STADTBEKANNT

Siebzehn Tote und ein Lebender am Wiener Zentralfriedhof

Warum die Simmeringer Hauptstraße das Fegefeuer und der Zentralfriedhof der vollste und gleichzeitig verlassenste Ort Wiens ist.

In der U4 Richtung Heiligenstadt steht ein Mann, der von endloser Verdammnis predigt: „Das wird ein ewiges Gefängnis ohne Sonnenschein“, schildert er die Hölle, die all jenen droht, die nicht jeden Tag die Bibel gemeinsam mit dem Frühstück verspeisen. Beim Karlsplatz steige ich aus und kämpfe mich durch die Menschenmassen zur Haltestelle des 71ers. Was mir beim Einsteigen auffällt, sind die Monitore in der Bim, die ich bisher noch in keiner anderen Linie gesehen habe und auf denen ich in diesem Moment lese, dass in Martin Scorseses neuestem Film 506 Mal das Wort „Fuck“ gesagt wird. Die Schirme gibt es wohl für den Fall, das einem Gast während der Fahrt die Handybatterie ausgeht und er nicht weiß, wo er sonst hinschauen soll.

Von Wien nach Simmering

Wer den 71er nimmt, der sieht alles von der Stadt: man zieht vorbei an Wiens Prunkzeit, fährt durch den vergeblich in Erinnerung bleiben wollenden dritten Bezirk und quält sich schließlich durch die endlose Simmeringer Hauptstraße, die wohl trostloseste Straße der Stadt. Kebabläden, Handyshops und Asia Noodle Snack Stände wechseln sich in Endlosschleife ab, sodass ich mich nach unzähligen immer gleich klingenden Stationen frage, ob ich mich vielleicht gar auf meiner letzten Reise befinde und die Simmeringer Hauptstraße das Fegefeuer ist, in dem ich für meine Sünden büßen muss – nicht umsonst ist in Wien der Ausdruck „der hat den 71er genommen“ ein Synonym für sterben. Ich möchte beim ersten Friedhofstor aussteigen, doch die Straßenbahn hält nicht, weil niemand gedrückt hat und auch niemand an der Haltestelle wartet. Auf einem gewaltigen Banner wird eine Rabattaktion von minus fünfzig Prozent auf Grabsteine verkündet und ich beschließe, bis zur Endstation und damit dem dritten Tor des Zentralfriedhofs zu fahren. Es ist ein seltsames Gefühl, ohne jeden Grund fast eine Stunde durch Wien zu pilgern um einen Friedhof zu besichtigen, auf dem man niemand kennt, der tot ist.

Friedhofsgesellschaft

Endlich an der Endstation angelangt stehe ich vor dem Tor Nummer drei, das pompös und mahnend auf die Besucher herabblickt. Ich schreite hindurch und blicke auf eine endlose Anreihung von Gräbern. Ein Wegweiser führt zur Aufbahrungshalle, dem Park der Ruhe und Kraft sowie dem Babyfriedhof. Ohne Ziel gehe ich drauf los. Es ist mein erster Besuch auf Wiens größtem Friedhof und ich verstehe schnell, warum dieser Ort etwas Besonderes ist. Eine aufgeladen ruhige Stimmung liegt in der eiskalten Luft.

Es ist vollkommen still und vor mir ist nichts außer Gräbern und Bäumen, und sogar die schauen irgendwie aus, als wären sie in einem Moment der Totenstarre gefangen. Ich spaziere eine Weile dahin und bemerke mit einem Mal, dass ich noch keiner Menschenseele begegnet bin. Ich drehe mich einmal um dreihundertsechzig Grad, aber weit und breit ist niemand zu sehen. Der Friedhof ist bis auf die abertausenden Toten menschenleer. Mit einem Mal wird mir unheimlich und ich beschleunige meine Schritte und gehe in die Richtung, in der ich den Ausgang vermute. Die Dämmerung ist mittlerweile herangebrochen, wenn man den urplötzlichen Einfall der Wiener Nacht überhaupt so nennen kann. Die Blicke strenger alter Herren wachen über mein Irren durch den Friedhof, überall sind ihre Büsten angebracht, so dass ich mich nie unbeobachtet fühle. Plötzliche sehe ich ein paar Meter vor mir eine menschliche, lebendige Gestalt. Langsam gehe ich näher, und sehe, dass es ein junges Mädchen ist, das an einem Grab steht, die Hände in der Manteltasche vergraben. Ihre lockigen Haare stehen in alle Richtungen ab, und ich frage mich, warum sie keine Mütze trägt. Schüchtern gehe ich näher und frage sie nach dem Weg zum nächsten Ausgang. Sie zeigt wortlos in die Richtung, aus der ich gerade gekommen bin und ich möchte schon weitergehen, als sie mich zurückhält mit den Worte: „Weißt du, dass es für jeden heute auf der Welt lebenden Menschen siebzehn Tote gibt, die einmal gelebt haben?“

Vergiss mein nicht

Über uns fliegt ein Schwarm von Raben, den man jedoch kaum erkennen kann, weil sie sich vom mittlerweile pechschwarzen Himmel kaum abheben. „Nein, das wusste ich nicht“, antworte ich. Sie sieht mich nachdenklich an. „Ich kann mich erinnern, an den Tag, an dem mein Großvater gestorben ist“, erzählt sie mir und zeigt dabei auf das Grab vor sich, auf dem der Name „Hermann Wegbringer“ steht. „Damals war ich schrecklich traurig, doch meine Mutter hat mir gesagt, dass solange ich ihn nicht vergessen würde, er immer weiterleben würde. Zu dem Zeitpunkt hat mich das sehr beruhigt, aber heute frage ich mich, was passieren wird, wenn ich sterbe und auch meine Eltern, dann gibt es doch niemanden mehr, der sich an ihn erinnern wird?“ Leider war das eine sehr schlüssige Logik, doch ich will sie unbedingt trösten: „Weißt du, eigentlich sind siebzehn Tote pro Lebenden ja recht wenig, wenn man bedenkt, wie lange es uns schon gibt. Das müsste man doch eigentlich hinbekommen, dass jeder Lebende sich siebzehn Verstorbene in Erinnerung hält. Ich könnte ja zum Beispiel deinen Großvater – und auch dich – übernehmen, wenn du das möchtest.“ Sie dachte eine Weile darüber nach und schien mit dem Vorschlag zufrieden zu sein. „Einverstanden. Und ich werde mich dafür an dich erinnern.“ Sie streckte ihre Hand aus und ich wusste im ersten Moment nicht, was sie wollte, aber dann erkannte ich, dass sie darauf einschlagen wollte. Nachdem der Pakt feierlich besiegelt war, drehte ich mich um und ging zum Ausgang, der wie sich herausstellte nur wenige Meter von dem Grab des Großvaters des Mädchens lag, seltsam dass ich ihn vorher nicht gleich gesehen hatte, ich musste direkt daran vorbeigegangen sein.

Zurück im 71er setzt sich eine alte Frau neben mich, kramt ihren Fahrschein heraus und ruft: „Es ist furchtbar, furchtbar.“ Sie setzt sich wieder, lacht laut auf, und wiederholt das „furchtbar“, sieht mich an und legt dann noch ein „schrecklich“ drauf. Ich schaue aus dem Fenster und bereite mich auf die lange Fahrt über die Simmeringer Hauptstraße vor, doch aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären kann, dauert sie dieses Mal nur einen kurzen Wimpernschlag an.

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