Stadtspaziergang: Vom St. Marxer Friedhof bis Grinzing

Man kann ein Leben lang durch das literarische Wien reisen und findet immer wieder neue Schauplätze aus Büchern und Lebensorte von AutorInnen.

Unsere Reise durch das literarische Wien beginnt dort, wo der Schriftsteller Thomas Bernhard, Ruhe und Konzentration fand: am St. Marxer Friedhof. Nicht an vielen anderen Orten in Wien, das er für „tot“ erklärte (besonders den ersten Bezirk!), in dem aber die Toten – typisch Wien!, meinte er – laut seien, gelang ihm das. Auf dem St. Marxer Friedhof, dem einzigen nicht aufgelassenen josephinischen Kommunalfriedhof, Biedermeieridyll und wildromantischer Park zugleich, gilt wie auf jedem Friedhof, was die 1987 verstorbene Wiener Lyrikerin und Kinderbuchautorin Christine Busta, ihrerseits auf dem Ottakringer Friedhof begraben, lakonisch schrieb: „Verschwenderisch ergießt man sich auf Papier / Wer in Steine schreibt, / wird sparsam mit Lettern“ (auf einem Lüftungsschacht hiner der Christine Busta – Säule im Klieberpark zu lesen).

Friedhof St. Marx (c) STADTBEKANNT
Friedhof St. Marx (c) STADTBEKANNT

„Seit je war hier das Tor zur Barbarei geöffnet“ – mit dem 71er den Rennweg entlang

Mit diesen Worten eröffnet die Journalistin und Schriftstellerin Hilde Spiel den Rennweg in ihrem Text „Rückkehr nach Wien“. 1946 besuchte sie, aus einer jüdischen Großbürgerfamilie stammend und kriegsbedingt nach England emigriert, als Kriegskorrespondentin für den „New Statesman“ ihre Heimatstadt. Im Autobus von Schwechat zum Hotel Astoria an der Ecke Führichgasse/Kärntner Straße hielt sie fest: „Ich kehre an meinen Usprung zurück, entfremdet durch langes Fortsein, gestählt durch manchen Verlust und bereit für eine harte, vermutlich schmerzhafte Erfahrung“
Die Autorin überholt uns, in der „verblichene(n) rote(n) Elektrische(n)“, die sie früher zur reformatorischen Eugenie-Schwarzwaldschule in der Wallnergasse, auf die Universität oder in die Literaturcafés der Stadt, in denen sie schon als Siebzehnjährige debutierte, gebracht hatte, vorbei am von Bomben verschonten Fasanviertel und der Salesianerkirche – „ihre unendliche Anmut greift mir ans Herz“ – und da ist bereits das Belvedere.

Österreich ist frei! Literatur über das Wien der Besatzungszeit

Das Cover des Buches „Schwarzer Peter“ von Peter Henisch zeigt einen kleinen Buben im menschenleeren Park vor dem Oberen Belvedere mit dem Kiesel spielend.
Dieses Kind ist, wie die Hauptfigur des Buches, dunkelhäutig, eine Seltenheit zur damaligen Zeit in Wien. Es handelt sich um das Besatzungskind Peter Jarosch, Sohn der schönsten Straßenbahnschaffnerin Wiens und einem amerikanischen Besatzungssoldaten, den der Sohn Jahre später in New Orleans suchen aber doch nicht finden wird. Der Text ist als Monolog des Peter Jarosch verfasst, in dem er einem Mann in einer Bar in Amerika seine Lebensgeschichte erzählt. Eröffnet wird die Erzählung so: „Sie werden lachen. Aber ich komme aus Wien. Auch wenn ich möglicherweise gar nicht so aussehe“. Mit Peter, der seine Kindheit lang am Donaukanal, „dem kleineren, ordinären Bruder der Donau“, herumstreunt und sich auch danach nicht in das konservative Nachkriegswien einfügen kann, erleben wir Wien in all seinen Farbschattierungen von der Nachkriegszeit bis in die 90er Jahre, als er bei der Rückkehr in seine Heimatstadt in Schubhaft genommen wird und beweisen muss, dass er wirklich ein echter Wiener ist.

Schriftsteller aus der neuen Welt im alten Wien

Ein kleiner Fußweg führt uns zum Neuen Markt in die alte Monarchiezeit zurück mit seltsamen, heute kaum noch vorstellbaren Begräbnisritualen, die die Aufmerksamkeit eines Schriftstellers von Welt – bekannt unter dem Namen Mark Twain – erregte. 1898 wurde hier Kaiserin Sisi zu Grabe getragen, in einem riutalisierten k. und k. Zeremoniell, das den Autor, der zu dieser Zeit mit seiner Familie in Wien weilte, zu einem Text inspirierte, der seine Landsleute wenig interessiert und der auch hierzulande erst nach dem Zweiten Weltkrieg auszugsweise in einer Zeitung veröffentlicht wurde.
In einer Zeit, aus der ein bis heute bekanntes literarisches Wiener Original seine Stoffe bezog: der „Herr Karl“, eine Figur, die gleich um die Ecke im „Top“, einem kleinen Feinkostladen in der Führichgasse ihr Vorbild fand und von Helmut Qualtinger und Karl Merz zur Kunstfigur verwandelt in den 60er Jahren für Furore sorgte.

Literarische Begegnungsorte

Ein kleines Stück geht es am Ring am niemals in Wien gewesenen deutschen Dichterfürst Goethe vorbei, bevor wir an der Babenbergerstraße abbiegen.
Den Blick auf die Casa Piccola an der Rahlstiege, wo sich einst das unvorstellbar schöne Café der Eltern von Lina Loos befand, in der letztere den Architekten Adolf Loos kennenlernte, der in ihrer kurzen Ehe erfolglos versuchte, jeglichen schriftstellerischen Impuls in ihr zu unterdrücken. Sie schrieb bis an ihr Lebensende mit Witz und Scharfsinnigkeit. Ihr allgegenwärtiges Motto dabei war: „Man muss alles auf die Spitze treiben“. Sie besuchte in den 1920er Jahren auch das Cafe Raimund, das wir am Museumsquartier vorbeispazierend ohne Leseturm aber mit viel Literatur unter freiem Himmel erreichen. Hier im Café Raimund versammelte sich unter der Ägide von Hans Weigel die junge literarische Nachkriegsszene, darunter auch Ilse Aichinger, die den Krieg mit ihrer Mutter und einem Schiffskoffer von Quartier zu Quartier ziehend überlebt hatte, ihre Zwillingsschwester hatte es durch die von den Quäkern organisierten Kindertransporte nach England geschafft – viele Mitglieder ihrer Familie wurden vernichtet. Die Literatur ist ihr von frühen Tagen an überlebensnotwendig gewesen, so heißt auch ihr Erstlingsroman „Die Größere Hoffnung“, mit dem sie bald nach dem Krieg aus dem großen Schweigen trat.

Rahlstiege (c) STADTBEKANNT
Rahlstiege (c) STADTBEKANNT

Fin de siècle und das Junge Wien

Beim Burgtheater werfen wir natürlich einen Blick auf das Café Landtmann, wo sich im selben Haus einst der legendäre Salon von Bertha Zuckerkandl, der letzte seiner Art in Wien befand. „Auf meinem Diwan versammelt sich ganz Österreich“ sagte sie, die Förderin des Neuen in der Gesellschaft und der Kunst, ob es die Wiener Werkstätte war, was ihr Hasstiraden des Schrifstellers und Zeitungsherausgebers Karl Kraus einbrachte oder auch die Autoren des Jungen Wien, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Mit letzterem und dem Regisseur Max Reinhardt schuf sie nach dem desaströsen Ersten Weltkrieg die Salzburger Festspiele.

Eine Straßenbahn schrieb Literatur

Der D-Wagen, eine literarische Straßenbahn wie kaum eine in Wien, in Heimito von Doderers epochalem Roman „Die Strudlhofstiege“ verewigt, bringt uns ein Stück weiter in der Literatur Wiens. Bevor sie in die Nähe zur Strudlhofstiege kommt, machen wir einen literarischen Abstecher zum Wasa-Gymnasium, ein architektonisches Juwel erbaut von Heinrich von Ferstel, wo Friedrich Torberg, der dem alten Wien in der „Tante Jolesch“ ein Denkmal setzte und der kosmopolitische Schriftsteller Stefan Zweig, der diesem verlorenen Wien in „Die Welt von gestern“ nachsinnt, zur Schule gingen.

Strudelhofstiege Alsergrund (c) STADTBEKANNT
Strudelhofstiege Alsergrund (c) STADTBEKANNT

Freud und sein literarische Doppelgänger

Was wären Wien und seine Literatur ohne Sgimund Freud?
Freud, der gleich um die Ecke wohnte und praktizierte beschäftigte sich nicht mit der Literatur seiner Zeit (sein Interesse galt Autoren der Vergangenheit) dafür sie sich aber umso mehr mit ihm und seiner Entdeckung des Unbewussten. Ein Autor seiner Zeit, dem Freud aber Bewunderung zollte, der ihm aber gleichzeitig unheimlich war, war Arthur Schnitzler, den er als seinen literarischen Doppelgänger bezeichnete. Zeitgleich zu Freud begab sich dieser literarisch auf die geheimen Pfade der menschlichen Psyche und ließ seine Texte um die (sexuellen) Verdrängungsakte der bürgerlichen Gesellschaft kreisen, sei es im „Reigen“, in „Anatol“ oder auch im inneren Monolog: „Fräulein Else“.
Eine andere literarisch lebendig gewordene (verbotene) Fantasie heißt Josephine Mutzenbacher und stammt aus der Feder Felix Saltens, einem Freund Arthur Schnitzlers und heute beinahe vergessenen Schriftsteller und Journalist, der mit dem Rehkitz Bambi eine nicht gegensätzlichere Figur hätte schaffen können. Nahe seinem Wohnhaus in der Porzellangasse 45 wohnt auch eine zentrale Figur aus dem Roman „Die Strudlhofstiege“, der kleine E.P., in dessem Zimmer das Geräusch des vorbeifahrenden D-Wagens gleich einer „äolischen Harfe“ erklang.
Hilde Spiel, die dem in der NS-Zeit mehr als zweifelhaft agierenden Doderer auch feindlich gesinnt sein hätte können, war dem Roman, in dem das untergegangene k.und k. – Wien wieder auferstand, jedoch fast gegen ihren Willen hoffnungslos verfallen.

Literarische Sommerfrische in Grinzing

Sommerfrische, ein Begriff, der mit dem alten Wien und auch seiner Literatur verbunden ist wie kaum ein anderer und diesen Sommer wieder in Mode kommt. Aus der Stadt drängte man an den Stadtrand hinaus zum Beispiel nach Nussdorf, der Endstation der Linie D, um auf die Hausberge des Wienerwalds zu steigen oder um dort wie Sigmund Freud „Die Traumdeutung“ zu schreiben. Am Weg dorthin liegt Grinzing, wo auch Grillparzer, aufgrund seiner identitätsstiftenden Werke oft als österreichischer Nationaldichter bezeichnet, einen seiner vielen Wiener Wohnsitze hatte, in deren Anzahl er Beethoven nicht um vieles nachstand. Als Siebzehnjähriger lebte er so wie der Komponist in der Grinzinger Hauptstraße 64, einige Jahre später verfasste er für ihn das Opernlibretto „Melusine“.
Unsere literarische Tagesreise endet am Grinzinger Friedhof, wo der ganz und gar nicht als Nationaldichter bezeichnete Thomas Bernhard und der erst spät zu seiner österreichischen Identität gefunden habende Heimito von Doderer ihre letzte Wohnadresse haben.

 

Elke Papp

Die Stadtverführerin ist auch Literatin und Literaturwissenschafterin. Sie bietet literarische Spaziergänge aller Art, auch mit eigenen Texten an. Interessiert? Mail an: mal@stadtverführerin.at

 

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