19. Juni 2014

Buchtipp: Die Stille in Prag

„Er steigt auf den Stuhl. So kommt er wunderbar an den Lautsprecher heran. Er tastet nach dem Kabel und schneidet. Dreht sich um. Keiner hat ihn bemerkt. Er geht zu der gegenüberliegenden Wand. Stellt sich auf den Stuhl. Greift nach dem Kabel. Schneidet. Auf einmal ist es still. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Wie schön. Vladimír erschauert vor Wonne.“

Das goldene Prag glitzert in der Sonne. Touristenhochburg, durch Millionen Fotolinsen verklärt, Romantik-Kitsch pur. Doch ihre eigenen Einwohner treibt die Stadt zu ihrem unaufhörlichen, treibenden und manchmal doch auch einlullenden Beat vorwärts.

„Born in the USA“: Da ist Wayne, der Amerikaner, vor vielen Jahren hier gestrandet. Die hysterischen 90er Jahre hat er mitgemacht in Prag, als Clubbesitzer, heute ist er in einer Kanzlei tätig. Mit seiner „Kleinen“ hat er es sich gemütlich gemacht – wäre da nicht das nagende Gefühl, dass etwas aus dem Lot ist.
„Let there be rock“: Da ist Hana, eine Weltreisende im Namen der Europäischen Union, die nach einem One-Night-Stand plötzlich wieder atmen kann.
„Love will tear us apart“: Da ist Petr, der ruhige Straßenbahnfahrer mit dem großen Schmerz im Herzen, der mit Hündin Malmö zu den Songs von Joy Division durch die Stadt fährt.
„It’s my age, it’s my rage“: Da ist Vanda, das wütende Teenager-Punk-Gör aus zerrüttetem Elternhaus, auf der Suche nach Nähe oder vielleicht genau dem Gegenteil.
„ … “ :Und natürlich ist da der ehemalige Orchestermusiker Vladimír, dessen absolutes Gehör das Krachen und Rattern der Stadt nicht erträgt und der der Welt die Stille bringen will – auch wenn keiner die Stille hören will.

In Jaroslav Rudiš’ Büchern nehmen Geräusche und Musik schon immer einen großen Platz ein – egal ob man mit ihm durch Berlin, Prag oder, wie in seinem neusten Roman „Vom Ende des Punk in Helsinki“ durch eine unbenannte Stadt im Osten Deutschlands spaziert. Beim Lesen spürt man das sofort: Die Kapitel sind nicht länger als ein guter Popsong, die einzelnen Erzählstränge verweben sich nach und nach zu einer vielstimmigen und immer schneller werdenden Sinfonie und streben schließlich auf das große Finale zu, in dem alle Fäden unaufhaltsam an einem Punkt zusammenlaufen.

Ein packender Roman über eine Stadt, eine Zustandsbeschreibung einer ganzen Generation, mit dem Kater der 00er Jahre zurecht kommen muss, nachdem die Heilsversprechungen der flirrenden 90er sich nicht eingelöst haben. Mal düster, mal überdreht, mal melancholisch, mal wütend – aber immer hoffnungsvoll. Zeit, mal wieder nach Prag zu fahren.

 

Jaroslav Rudiš

Die Stille in Prag
btb, 9,30 €

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