17. September 2011

Buchtipp: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900.

Als in Wien die Revolte losbrach

Am 17.9. 1911 kam es wegen horrender Wohnungs- und Lebensmittelpreise in Wien zum offenen Aufstand.

Man kennt die Szenen aus London oder Paris: Aufständische ziehen durch zerstörte Straßenzüge voller verwüsteter Häuser, es brennt was nur brennen kann, die Staatsmacht schwankt zwischen Paralyse und Eskalation. Schüsse fallen, Menschen sterben, die Gewalt regiert. Vor genau hundert Jahren war dieses London, dieses Paris, dieser Aufstand der marginalisierten Massen, mitten in Wien. Nach einer Protestkundgebung am Rathausplatz fiel plötzlich ein Schuss, woraufhin die Situation eskalierte und sich die aufgestaute Verdrossenheit der versammelten DemonstrantInnen gewaltsam Bahn brach. Bekannt wurden diese Ereignisse später als Teuerungsrevolte oder Hungerunruhen.

So wie auch in all den genannten Beispielen entzündeten sich auch im Wien des Jahres 1911 die sozialen Unruhen an ganz spezifischen Problemstellungen. Und damals wie heute wurden diese zugunsten einer Diagnose der bloßen Zerstörungswut des raub- und rauflustigen Pöbels unter den Tisch gekehrt.

Hunger und Wohnungsnot

Zu den ohnehin schon länger mehr oder weniger unterschwellig schwelenden gesellschaftlichen Spannungen des ausgehenden k.u.k Reiches, in all seiner wirtschaftlichen und politischen Zurückgebliebenheit, taten 1911 die sprunghaft ansteigenden Wohn- und Lebensmittelkosten ihr Übriges, um die Lage in der Hauptstadt überkochen zu lassen.

Schon seit den Jahren 1909/10 ließen Missernten und die gestiegenen Preise am Weltmarkt den Aufwand für Nahrung in die Höhe schnellen. Hatte der Kilogramm Mehl kurz zuvor noch bei 26 Hellern gelegen stieg er nun auf 48 Heller. Fleisch war für die einfache Bevölkerung ohnehin gar nicht mehr leistbar. Daneben mussten wegen der grassierenden Wohnungsnot, aus Gründen der schrankenlosen Immobilienspekulation und fehlenden staatlichen Maßnahmen, viele Menschen auf engstem Raum dahinvegetieren oder verloren sogar gänzlich ihr Dach über dem Kopf. In den Vorstädten, außer halb des Linienwalls (heute: Gürtel) kam es zur massenhaften Verelendung der Bevölkerung. Die Menschen waren Armut, Krankheit und Kriminalität beinahe schutzlos ausgeliefert – vor manchen Gebieten kapitulierte sogar die Staatsmacht. Hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung, Gewalt und Alkoholismus taten ihr Übriges dazu, dass für einen großen Teil der Wiener Bevölkerung jedwede Besserungsperspektive bereits von vornherein unrealistisch war.

Massenprotest gegen die Regierung

In dieser Situation versammelten sich diese marginalisierten Massen am 17. September 1911 am Wiener Rathausplatz. Fast 100.000 Menschen waren gekommen, um unter der Führung des wortgewandten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Franz Schuhmeier ihren Unmut über die Tatenlosigkeit der Regierung kundzutun. Die Veranstaltung war schon vorbei und die einzelnen Abordnungen waren bereits dabei, wieder in ihre Bezirke zurückzuziehen, als vor dem damaligen Verwaltungsgerichtshof und heutigen Stadtschulrat plötzlich ein Schuss durch die Luft zischte. Die aufgebrachte Menge vermutete einen Angriff aus dem Gebäude und begann Steine und Gegenstände auf Gericht und Rathaus zu werfen. Die Polizei schritt nun mit aller Gewalt ein und drängte mit aufgepflanzten Bajonetten die aufgepeitschten Massen erst in die Burggasse und Lerchenfelderstraße, später bis zur Thaliastraße zurück.

Brennpunkt Ottakring

Die Szenerie eskalierte vollends. Vor allem im Arbeiterbezirk Ottakring, einem der sozialen Brennpunkte, spielten sich bald bürgerkriegsähnliche Zustände ab. Geschäfte wurden geplündert, Auslagen eingeschlagen, Amtszimmer gestürmt und Brände gelegt. Banden zogen brandschatzend durch die Straßen. Die Polizei stürmte den Bezirk mit gnadenloser Härte. Bald fielen die ersten Schüsse. Einem solchen erlag der Arbeiter Franz Joachimsthaler, nach dem später ein Platz in Ottakring benannt wurde. Den ebenfalls protestierenden Otto Brötzenberger streckte ein Bajonettstich nieder und dem eigentlich unbeteiligten Franz Wögerbauer spaltete ein berittener Soldat mit seinem Säbel den Schädel, beide starben ebenso wie der Arbeiter Lepold Lechner.

Schwer verletzt wurde im Zuge der Unruhen der Polizeirat Emil Frömmel, den ein Bügeleisen am Kopf traf. Erst gegen Abend, nachdem die Polizei den Aufstand gewaltsam niedergeschlagen hatte, ließen die Proteste nach, dauerten jedoch noch einige Tage an.  Neben den vier Toten gab es 149 Verletzte und etwa 500 Verhaftete. Knapp 300 von ihnen wurden anschließend zu teils langjährigen Kerkerstrafen verurteilt.

Am Ende standen, wie auch schon in London oder Paris wieder fassungslose Bürger, die sich all das nicht erklären konnten.

Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900.
Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner

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