10. September 2011

Die Große Chance

"Die Große Chance" heißt die neue Casting Show des ORF. Lasset die Spiele beginnen.

Das Konzept ist so wohlbekannt und erfolgreich wie auch, no na, abgelutscht. Die Gesichter sind neue, dieselben Prototypen sind es natürlich trotzdem. Man nehme: ein Frau/Mann Moderatoren-Gespann, in diesem Falle Ex-Puls 4 Moderatorin Doris Golphasin und Andi Knoll. Ganz wichtig ist natürlich auch die Jury, deren Formel im ORF 2011 so lautet: ein Zirkusdirektor/Clown (gar nicht so unpassend eigentlich), eine Ballerina, eine Dialektsängerin die vor sieben Leben mal bei Hubert von Goiserns Alpinkatzen sang und ein prominenter Gangsta-Rapper. Und natürlich jede Menge unterschiedlich begabter und thematisch gewichteter Teilnehmer, des Ruhmes hungrig, des Performens mal mehr, mal auch weniger mächtig. Ready to rumble? Off we go! Mit "Die Große Chance" feierte das neue Casting Format von ORF eins Premiere. Anderthalb Stunden Casting-Zirkus, und nachdem der hiesige Rundfunk mittlerweile ohnehin am liebsten Ableger von gängigen Formaten, am liebsten mit Wettbewerb, Jury, Scheitern und groß inszenierten Emotionen zur besten Sendezeit sendet, ist es auch schon wurscht ob wir das jetzt "Helden von Morgen", "X-Factor", "FS1 sucht den Superstar", "Dancing Stars", "Starmania" oder, wie diesmal eben, "Die große Chance" nennen.

Die Spielregeln

Knöpferl druckend entscheidet in erster Instanz die Jury. Gibt es drei von vier Mal grünes Licht für die jeweiligen KandidatInnen, heißt das automatisch nächste Runde. Aber auch das Publikum darf Knöpfe drücken, was erst dann wesentlich wird, wenn die Jury-Bewertung halb ja, halb nein ist. Von all den Ja-Kandidaten wählt am Ende der Sendung die Jury jene vier aus, die dabei bleiben dürfen. Sechs Casting-Shows gibt es, drei Recall-Shows (mit insgesamt 24 Kandidaten) und dann das große Finale am 11. Oktober, bei dem der glückliche Gewinner oder die glückliche Gewinnerin mit 100.000 Euro nach Hause spazieren darf. Davon kann man sich eine Menge Kühe kaufen, wie Sido es formulierte.

Panem et circenses – Runde eins!

Im Vorspann werden Parallelen zur "Großen Chance" 1981 gezogen, der große Peter Rapp, Oldschooler und Grand Signeur von Charme, Anmut und Eloquenz in der Moderation, wird gezeigt und dramatische Musik erklingt. Es darf wieder gesungen, getanzt, gestümpert, gestaunt und geweint werden. "Viele fühlen sich berufen, wenige sind auserwählt", zitiert Zirkusmeister und Jurymitglied Bernhard Paul die Bibel, und hat damit natürlich nicht ganz unrecht. Dass die Nicht-Berufenen natürlich eine ebenso große Rolle in diesen Formaten spielen wie die angeblich berufenen, ist selbstredend. Eine kurze Anmoderation vom Knoll/Golpashin gespannt aus einem Heißluftballon (vielleicht als ungewollte Anspielung an die Moderation der beiden Heißluft-Plauderer, bei denen man sich sogar Klaus Eberhartinger und Mirjam Weichselbraun zurückwünscht, danke ORF) – und los geht es. Panem et circenses, die Arena ist eröffnet!

In Medias Res

So kommen die Clowns, Gaukler, Sänger, Jongleure, Tänzer und Taschenspieler also in die Arena um ihre Künste vor der Jury vortragen. Als erstes zum Beispiel der Bandana unter dem Baseball Cap tragende Marcel aus Vorarlberg, der mit seinem Lied "But I", vorgetragen mit Akustikgitarre und einem ausufernden und etwas nervenden "believe in me! believe in me!"-Crescendo die Riege eröffnet. Und siehe da, das "believe in me"-Flehen zeigt Wirkung bei der Jury, Sido findet Marcels Stimme zwar eigenartig, findet das Lied aber gut. Jurymitglied und Tänzerin Karina Sarkissova findet wiederum Marcels Augen "so rein!", und auch Zirkusdirektor Paul und Ex-Alpinkatze und Dancing Stars-Teilnehmerin Sabine haben nichts einzuwenden.

Gerhard aus Wien ist dann der obligate "Leider nein!" Kandidat, wobei das "leider" natürlich höchst argumentierbar ist. Berufen, um es noch einmal mit dem Bibelzitat des Zirkusdirektors/Clowns zu sagen, fühlt sich Gerhard (geschätzte 55), durchaus – auch wenn er vorab Format, Sender, Jury und Publikum über alle Maßen lobt, alles Arschkriechen hilft nix – als "Auserwählt" geht Gerhard mit seinen Darbietungen von Schlagersongs natürlich nicht durch. Wie alle Berufenen versteht es er die Ablehnung natürlich nur bedingt: "Die anderen haben alle ja Musikbegleitung gehabt. Ich habe A Capella gesungen, das ist ja unerhört schwer!", sagt Gerhard, dessen größter Traum es, so die Vorab-Info, ist, für Richard Lugner zu singen. Dafür ist er bestimmt nicht nur berufen, sondern mit etwas Glück auch auserwählt. Mörtel hat bestimmt zugesehen, und die Bühnenbretter der Lugner City (die für viele die Welt bedeuten, vielleicht bald einen Star mehr. Führt zusammen, was zusammen gehört! Oder Hubert, AHS-Lehrer, dessen Showact darin besteht, auf der Bühne innerhalb eine Minute mit Hilfe von Bohrmaschinen und Rohren eine Querflöte zu basteln und anschließend auf jener zu spielen.

Fast Forward

Machen wir es kurz. Von Solo-Tänzern – Paul, 16 (durch das "nein" der Juryballerina entmutigt) bis Schuhplattler/Akrobatik, von obskuren Irgendwas-Einlagen bis Musik reicht die Kunstspanne. Awoba Bagshaw Macheiner, beruflich als Juristin bei der Uno und gebürtige Nigerianerin, überzeugt mit einer Whitney Houston-Gesangseinlage. Genau wie genannter Marcel sowie der Luftakrobat Chris Kiliano, Mike Saretzky (inklusive seiner Tanzshowgruppe "FRK Academy"), ist sie eine Runde weiter. Am 16. September geht der Zirkus im Hauptabendprogramm weiter, wer das Rennen machen wird, entscheidet sich am 11. November.

Und, guat?

Summa summarum eben Unterhaltung für die, die unterhalten werden wollen. Im Vergleich zur Jury-Nonchalance von anderen Castingformaten, trotz der angedachten Bad Boy-Rolle von Sido, eine sehr biedere, unbeleidigende Casting-Show – was eigentlich aber ganz okay geht. Vorführen tun sich die "Leider Nein" Kandidaten freilich ohnehin naturgemäß selbst – natürlich kommt kein derartiges Format ganz ohne die Inszenierung des Fremdschämens aus, im Vergleich zu deutschen Pendants wird die Fremdschäm-und Erniedrigungskuh hier aber eher mäßig gemolken. Zum Trost für Enttäuschte gibt es sicher das eine oder andere "Leider Nein"-Bonusfeature auf DVDs anderer Shows – und Gerhard ist wie gesagt sicher eh bald Stargast bei Mörtel.

Ob eine weitere Casting-Show im Hauptabendprogramm wirklich notwendig ist, ist natürlich eine ganz andere Frage, und ob es wirklich soviel unentdecktes Zirkustalent gibt, dass die Arena ein weiteres Mal ihre Pforten öffnen muss, ebenso. Hingenommen wie es ist, stellt "Die Große Chance" ein liniengetreues, harmloses Unterhaltungsspektakel dar. Unspektakulär, berechenbar, anbiedernd – das liegt sowohl in der Natur des Senders als auch in jener solcher Shows. Da wird auch Sido, der mittlerweile eh beinahe der Bildungsbürger der deutschsprachigen Gangsta-Rapper ist, nichts dran ändern können. Wird ihm aber auch egal sein.

Und wenn "Die Große Chance" wieder vorbei sein wird, gibt es auch keinen Grund zum Trauern: das nächste "Dancing Stars" kommt bestimmt.

Markus Brandstetter

Geschichten rund um den Song Noir. Von strauchelnden Protagonisten, Mythen und Mixtapes.

3 Kommentare

  1. Pauls Zirkuspferd

    10. September 2011

    Kompliment Herr Kerkermeister
    Gut geschrieben. Die Belanglosigkreit als Belanglosigkeit stehen gelassen ohne sie irgendwie auf oder ab zu werten.

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  2. Lucy

    10. September 2011

    Gut getroffen
    Nur der Verweis darauf, dass einige Jurymitglieder die Casting-Show mit einer Singlebörse wäre noch zu ergänzen 😉 Beim Anblick des nackten Oberkörpers des Trapezkünstlers wartete man förmlich darauf, dass die weiblichen Jurymitglieder gleich in Ohnmacht fallen….

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  3. Adrian

    10. September 2011

    Die Sarkisova
    war sowieso das eizige Highlight die könnte der ORF ruhig öfters zeigen.

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